De Zerbis Fußball vom Reißbrett

Lesezeit: 5 Minuten

Seit etwas mehr als zwölf Monaten ist Roberto De Zerbi nun schon Coach von Brighton & Hove Albion. Welche Moral er und seine Mannschaft seitdem in die Fußballwelt tragen und wie sich sogar Manchester Citys Mastermind Pep Guardiola bereits an taktischen kniffen des genialen Italieners bedient hat, zeigt den unfassbaren Einfluss eines 44-Jährigen Mannes aus Brescia, der mittlerweile sogar bei Real Madrid auf dem Zettel stehen soll. De Zerbis Wirken ist ein Geschenk an die Fußballwelt, dass seine Zeit im Süden Englands noch lange überdauern wird.

Erfolg liegt in der Flexibilität

Wie baut man eigentlich so ein höchsterfolgreiches Fußballteam, das in der Premier League trotz verhältnismäßig bescheidenen Mitteln dermaßen auftrumpft? Das wird sich auch ein gewisser Roberto de Zerbi vor rund einem Jahr gefragt haben, als er seine neue Stelle in Brighton antrat und Erfolgscoach Graham Potter ersetzen sollte, der gerade für eine neue Rekordablöse zum FC Chelsea gewechselt war. Bei der Vorstellung des neuen Mannes kamen die Clubverantwortlichen nicht umhin zu betonen, welch unglaublicher Coup ihnen da soeben gelungen war. Präsident Tony Bloom pries den jungen Coach mit enormer Begeisterung ohne Umschweife als taktisch hervorragenden Analytiker an, der auch menschlich wahnsinnig gut zum Verein und seinen Werten passt. Dass diese Einschätzung mit heutiger Sicht auf die rasante Entwicklung Brightons fast noch wie ein extremes Understatement daherkommt, zeigt nur einmal mehr, wie richtig der Verein mit dieser Personalie lag. Doch wie konnte sich dieser da überhaupt so sicher sein?

Aufstrebender Mann aus Brescia

Bei ausführlicherem Blick auf die Laufbahn de Zerbis fällt erst einmal nichts besonderes auf. Bevor er sich den „Seagulls“ anschloss, trainierte der 44-Jährige unter anderem Shakhtar Donezk, Sassuolo Calcio oder die US Palermo. Allesamt Namen, die in Europa dem geneigten Fan zwar grundsätzlich ein Begriff sind, dennoch definitiv nicht den ganz großen Charm versprühen. Wie kam Brighton also auf diesen Mann? Die Antwort: Seine Überzeugungen und taktischen Ansätze demaskierten ihn schon früh in seiner Laufbahn als absoluten Visionär, der ein Spiel lesen und interpretieren kann, wie sonst nur die ganz Großen seiner Zunft. Der Verein erkannte den fortschrittlichen Ansatz De Zerbis, effektiven Ballbesitz zu zelebrieren und gleichzeitig die wichtigsten Elemente des legendären Gegenpressings zu implementieren. Ein risikobehafteter Ansatz, der trotz anfänglicher Skepsis im neuen Verein (De Zerbi startete mit drei Niederlagen aus seinen ersten fünf Spielen) schnell Wurzeln schlug und von den Medien längst als „göttliches Märchen“ bezeichnet wird. Brighton spielt fortan Trendsetterfußball.

Taktischer Visionär

Der Fußball dieses Teams, das in der Premier League bis dato, wenn überhaupt, eher zum grauen Mittelmaß gehörte, transformierte sich binnen kürzester Zeit zur Hauptattraktion der gesamten Liga. Im eigenen Ballbesitz stellt der Trainer fortan im 4-2-3-1 (4-2-2-2) auf, in welchem Brighton das Spiel umsichtig von hinten aufbaut, bei überstürztem Vorpressing des Gegners allerdings die gegnerischen Ketten schnellstmöglich durch klare, zielstrebige Pässe überspielt, um in aussichtsreiche Abschlusspostionen zu kommen. Der neue Coach veränderte das Positionsspiel seines Teams auch gegen den Ball grundlegend, in dem er seine Mannen im eigenen Gegenpressing, das in seinen Schlüsselelementen an die Spielweise Jürgen Klopps erinnert, deutlich höher aufstellte. De Zerbi erkennt, welche Elemente (ausführliche taktische Analyse hier) er einbauen muss, um möglichst sicher zum Erfolg zu kommen. Das seine Spielweise durch sein enorm intensives Anlaufen aber auch enorme Risiken birgt ist ein Paradoxon, das der Erfolg offenbar so mit sich bringt. Sein Mut zum Risiko ist auch den größten der Trainerzunft längst nicht verborgen geblieben. So adelte nicht zuletzt Pep Guardiola den Brighton-Coach vor einigen Monaten als Fußballvisionär und Taktikgenie, das den Fußball die nächsten 20 Jahre nachhaltig prägen wird.

Variabilität als Signature

Geht man genauer auf dieses Paradoxon ein, stehen die in der Gesamtheit häufig überzeugenden Ergebnisse Brightons einem Spielstil gegenüber, der mit einer Überzahl schon am gegnerischen Strafraum ein enormes Risiko birgt, durch ballsichere und präzise Passgeber von hinten heraus selbst in wenigen Sekunden überspielt zu werden. Brightons offensive Erfolgsgaranten Mitoma, Ferguson oder auch Ex-United Star Danny Welbeck bilden eine hohe Pressingformation, während sich im Mittelfeld eine Art Sicherheitslinie bildet, die aus Pascal Groß und dem nächsten Toptalent Carlos Baleba gebildet wird. Durch die Positionierung der Außenverteidiger Estupiñán/Veltman, die immer mal wieder variiert, wird versucht, angesprochenes Risiko auf ein Minimum zu begrenzen. Dass dieser Ansatz allerdings auch nicht immer funktioniert, konnte man gut beim krachenden 1:6 gegen Aston Villa vor wenigen Wochen erkennen. Alles in allem definiert sich Brighton als Pressingmaschine mit geduldigen Ballbesitzelementen. Quasi ein Paradoxon auf mehreren Ebenen, dass von Taktikgenie De Zerbi fast in Perfektion dirigiert wird.

Spielerfreund und Menschenfänger

Abseits davon wäre es allerdings vermessen, den 44-Jährigen nur auf seine taktischen Fähigkeiten zu reduzieren. De Zerbi gilt als Spielerfreund, der seine Akteure in taktische Pläne und Vorhaben miteinbezieht (mehr dazu im neuesten Podcast) Adam Lallana, Ex-Spieler des FC Liverpool, gab vor wenigen Wochen in einem Interview faszinierende Einblicke zum eindrucksvollen Wirken dieses Ausnahmetalents, das sie in Brighton alle lieben, obwohl er einst auf den so beliebten Graham Potter folgte, für den es allerdings beim FC Chelsea im Anschluss so gar nicht funktionieren wollte. Zum einen manifestiert sich das natürlich in der Hingabe, die die Spieler sowohl bei der Umsetzung der Trainingsinhalte als auch auf dem Spielfeld zeigen, um die Vision ihres Chefs bestmöglich in die Tat umzusetzen. Dass dieses Unterfangen auch enorme Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus besitzt, zeigt nicht zuletzt die Verpflichtung von Golden Boy Ansu Fati. So überzeugte De Zerbi den „rechtmäßigen Erben“ Lionel Messis, der schon in jungen Jahren die Nummer 10 des FC Barcelona trug, durch seine Vision und einen Ausweg aus der sportlichen Sackgasse, in der sich der 20-Jährige seit geraumer Zeit befand. Ein Wechsel, der ohne das Wirken des charismatischen Italieners ins beschauliche Brighton ansonsten wohl auf ewig undenkbar gewesen wäre. De Zerbi ist ein Menschenfänger.

Kein Ende in Sicht

Auch Neu-Nationalspieler Pascal Groß ist so ein Mann, der von den Ideen seines Trainers enorm profitiert. Der ehemalige Ingolstädter, dem so eine Entwicklung wohl nur die größten Optimisten zugetraut hätten, nimmt im System Brightons eine zentrale Rolle als Taktgeber ein und ist als Anführer nicht nur für den erstmaligen Einzug in die UEFA Europa League verantwortlich, sondern auch für den erneut starken Saisonstart des Teams, das nach acht Spieltagen auf Rang Sechs steht. Egal ob Groß, Mitoma oder Supertalent Ferguson, De Zerbis Vertraute setzen nahtlos da an, wo sie aufgehört haben und runden eine Geschichte ab, die schon längst geschrieben steht. Diesem Mann sind trotz des regelmäßigen Ausverkaufs keine Grenzen gesetzt für eine Überzeugung, die auf klaren Idealen eines Trainers fußt, der seine Jungs mitreißt und gleichzeitig auch noch die nächsten zwanzig Jahre zu den Toptrainern der Fußballwelt gehören wird. Vielleicht sogar schon sehr bald bei einem Weltverein wie Real Madrid, dass ja bekanntlich im nächsten Sommer einen Nachfolger für Carlo Ancelotti sucht…

Für Dich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert