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Die Talente im Profisport werden immer jünger, die Rekorde monströser und die mediale Aufmerksamkeit immer unverhältnismäßiger. Gefühlt wöchentlich sieht sich die Fußballwelt mit neuen Wunderkindern konfrontiert, die angeblich das Zeug zum nächsten Superstar haben. Schaffen tun es kaum überraschend dennoch die wenigsten von ihnen. Doch woran liegt das? Genau mit dieser Thematik wollen wir uns heute näher beschäftigen und blicken dabei vor allem national auf die Rolle des DFB, spezifische Parameter wie Persönlichkeitsentwicklung oder den Erfolgsdruck, um den Mythos des inflationären Jugendwahns einmal näher zu betrachten.
Revolution oder Makulatur?
Allein die Tatsache, dass das Mindestalter für ein Debüt im Profifußball nicht zuletzt in Deutschland immer wieder angepasst wurde, ist ein erstes Indiz dafür, wie angesprochene Entwicklung hierzulande überhaupt erst möglich wurde. Vor etwas mehr als drei Jahren, genauer gesagt im Juni 2023, gab der DFB bekannt, das vorherige Alterslimit für einen Einsatz im deutschen Profifußball von 16 Jahren und 6 Monaten auf runde 16 Jahre herunterzustufen. Erster Nutznießer dieser Revolution war seinerzeit Borussia Dortmunds aufstrebender Youngstar Youssoufa Moukoko, der am 21. November 2020 im zarten Alter von 16 Jahren und einem Tag in der höchsten deutschen Spielklasse debütierte und wenige Wochen später sogar zum jüngsten Bundesligatorschützen aller Zeiten aufstieg. Nur wenige Tage älter war bei seinem Profidebüt im Januar 2022 das damalige FCB-Toptalent Paul Wanner (16 Jahre & 15 Tage). Einige dieser Jungs, deren Traum gar nicht früh genug in Erfüllung gehen konnte, schienen früh angekommen an ihrem vermeintlichen Ziel. Doch was genau passiert mit jenen Kickern, die von frühester Kindheit an in hochprofessionellen Nachwuchsleistungszentren durch etliche Anforderungen unter solch enormen Erfolgsdruck stehen?
Dürfen Kinder noch Kinder sein?
Von Kindesbeinen an werden die jungen Talente, in Absprache mit dem DFB und deren erarbeiteten Konzepten, taktisch geschult und in ein ein gewisses Korsett aus Vorgaben und Verhaltensregeln gezwängt. Doch wie sinnvoll ist es, heranwachsende Individuen, die sich voll in ihrer Entwicklung befinden, derartig zu einzuspannen? Auf Verbandsseite scheint immerhin eine gewisse Einsicht eingekehrt zu sein, so untergliedert man das Anforderungsprofil an seine Nachwuchsspieler im Zuge der Nachwuchsreform ab 2024 in zwei Bereiche: Im ersten Teil dieses Vorgehens wird besonders Wert auf die „Fußballerischen Basisqualitäten“ gelegt, die vom DFB vor allem in den jüngeren Altersstufen angewandt werden. Ziel ist es, jenen Talenten in Spielformen vor allem den nötigen Spaß zu vermitteln (dazu gleich mehr). Teil zwei umfasst vor allem unter Berücksichtigung der höheren Jahrgangsklassen die sogenannten „Individuellen positionsspezifischen Qualitäten“, die aufbauend auf Teil 1 für den nötigen Feinschliff in Hinblick auf den Erwachsenenbereich sorgen sollen.
Ist diese Nachwuchsreform hilfreich?
Oberflächlich lässt sich sagen, dass angestrebte Veränderungen, die eine grundlegende Verbesserung beim Eingriff ins Leben von Kindern/Jugendlichen in der Entwicklung ermöglichen könnten, erst einmal aus ihren positiven Blickwinkeln betrachtet werden sollten. Kinder, die ohnehin noch mitten in der Selbstfindungsphase stecken und sich in Nachwuchsleistungszentren sowieso unter einer Art überdimensionalem Brennglas befinden, müssen mit allen Mitteln geschützt werden. Der Deutsche Fußballbund regt so dazu an, heranwachsenden Menschen wieder mehr den natürlichen Spaß am Umgang mit dem Ball zurückzubringen und formuliert dabei den Anspruch an sich selbst, wieder mehr „wie Kinder zu denken“. Ein solches Vorgehen kann allerdings hier nur der Anfang einer anzustoßenden Entwicklung sein, die in diesen Jahren mit Hinblick auf den Profifußball sorgfältig vorbereitet werden sollte.
Blick nach Europa
Verschieben wir unseren Fokus nun einmal auf die Vorgehensweise in ganz Europa, fällt auf, dass beispielsweise in Hinblick auf die Mindestaltersgrenze in Topligen längst nicht überall an einem Strang gezogen wird. Vergangenes Wochenende debütierte beispielsweise bei der AC Mailand in Francesco Camarda per Sondergenehmigung ein 15-Jähriger (!) in der Serie A und wurde somit zum jüngsten Profi aller Zeiten. Er unterbot dabei sogar den bisherigen Rekord von Bologna-Talent Wisdom Amey (15 Jahre & 274 Tage). Auch in Spanien kam Mallorcas Luka Romero 2020 (heute ebenfalls AC Mailand) mit 15 Jahren & 7 Monaten zu seinem Profidebüt in La Liga. Wir sehen also, dass der Jugendwahn hierzulande längst nicht der Gipfel ist, sondern durch andere Ligen noch einmal unterboten wird. Der Sprung von der Jugend zum gestandenen Profifußballer ist auch nach bestmöglicher Ausbildung ein anspruchsvoller. Bedenkt man den frühen Erfolgsdruck sowie die mediale Aufmerksamkeit, die diesen jungen Menschen bereits in jenem Entwicklungsstadium zu Teil wird, sollte man umso behutsamer mit derartigen Beispielen umgehen.
Talent kennt kein Alter – Entwicklung schon
Ein Zitat, dass beispielsweise von Milan-Trainer Stefano Pioli zuletzt im Zuge der Kadernominierung von Francesco Camarda fiel, war, das Talent kein Alter habe. Auch Real-Coach Carlo Ancelotti blies vor wenigen Wochen ins gleiche Horn. Oberflächlich betrachtet erscheint diese Aussage zutreffend. Allerdings nur, wenn man Dinge rein aus einem theoretischen Blickwinkel betrachtet. Wie zuvor beschrieben, steckt hinter Teenagern, die derartig früh zu Personen des öffentlichen Lebens werden, weit mehr als nur ein Spieler, der am Wochenende seine Leistung auf dem Platz abzurufen hat. Im Interview mit „The Players Tribune“ sprach erst kürzlich Real-Star Fede Valverde von einer Art „Gottkomplex„, da ihm der Erfolg in jungen Jahren bereits früh zu Kopf stieg. Geld, Ruhm und (überzogene) Lobeshymnen sind zentrale Gesichtspunkte, die den Charakter eines Menschen, vor allem wenn er noch mitten in seiner Entwicklung steckt, schnell in seinen moralischen Grundwerten erschüttern und nachhaltig beeinflussen können. Was passiert, wenn diese jungen Spieler in ihr erstes Leistungsloch fallen und sich plötzlich wieder in Nachwuchsteams wiederfinden, um nötige Spielpraxis zu erhalten, davon ganz zu schweigen.
Aufstieg und Fall
Der Erfolgsdruck, den diese Spieler unweigerlich mit derart öffentlichkeitswirksamen Leistungen hervorrufen, ist enorm und nur ein Bestandteil des angesprochenen Risikos. Unter dem Brennglas Profisport wird jedes noch so klitzekleine Detail mit Argusaugen unter die Lupe genommen und in den Medien gnadenlos ausgeschlachtet. Um es ganz klar zu sagen: Es gibt in diesem Geschäft einfach keinerlei Raum für Fehler. Jede Story muss perfekt sein und sobald das nicht mehr der Fall ist, beginnt die Zeit der unangenehmen Fragen. Wie es zu derartigen Szenarien im Vorhinein überhaupt kam, interessiert die Boulevardpresse in der Regel hinterher recht wenig. Beispielsweise der physische wie psychische Verschleiß, dem sich auch junge Spieler in der heutigen Mediensportart Fußball bereits im Alter von nur 15 Jahren ausgesetzt sehen, ist ein Punkt, der medial nahezu gar nicht berücksichtigt wird. Was tust Du, wenn du am deinem Zenit angekommen bist, wer fängt dich in diesem Haifischbecken auf und wie kommst du ohne ein stabiles Umfeld überhaupt zurecht? Fragt mal bei Sebastian Deisler nach, welch dramatische Wendung die Karriere eines Supertalents nehmen kann, das diesem Druck weder physisch noch psychisch gewachsen ist.
Behutsamkeit ist der Schlüssel
Nun stellt sich also nachvollziehbarerweise die Frage, was Vereine und Verbände tun können, um derart dramatischen Entwicklungen entgegenzusteuern. Einen bedenklichen Kurs, den ein solches Talent nach der ersten medialen Aufmerksamkeit einschlägt, zu erkennen und dem durch einen Schritt zurück entgegenzusteuern, sollte jedem Club grundsätzlich am Herzen liegen. Beispielsweise nach Paul Wanners Debüt für den FC Bayern vor rund zwei Jahren schien das junge Talent schnell zu stagnieren und so entschied man sich, den heute 17-Jährigen für ein Jahr ins beschauliche Elversberg zu verleihen. Auch Sidney Raebiger, 2021 jüngster Debütant der RB-Geschichte, tauchte nach seinem Debüt schnell wieder ab und ging den Umweg über Greuther Fürth und Eintracht Frankfurt II. Der Schutz eines jeden jungen Menschen sollte oberste Priorität haben und nicht an Parametern wie dem Alter oder der grundsätzlichen Leistungsfähigkeit definiert werden. Sorry, Herr Pioli!