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Die immer kontroverseren Entwicklungen rund um die Bundesliga, ihr Schiedsrichterwesen sowie den VAR erreichten an diesem Wochenende wieder einmal einen neuen Tiefpunkt. Im Kontext der ganzen Polemik wird ein Sachverhalt immer klarer: Gewährleistet man nicht zeitnah eine einheitliche Regelauslegung und reformiert den VAR grundlegend, wird die Bundesliga sportlich weder gerechter noch in irgendeine Weise transparenter. Ein Kommentar zum erneuten Regelchaos am vergangenen Wochenende.
Wo ist die Grenze?
Zwei Szenen und deren höchst unterschiedliche Bewertung standen am vergangenen Wochenende wieder einmal sinnbildlich für die fehlende Konsequenz der sogenannten Eliteschiedsrichter im deutschen Oberhaus: Vincenzo Grifo vom SC Freiburg kam am Samstag trotz seines gesundheitsgefährdenden Foulspiels gegen Bochums Cristian Gamboa um eine zwingend notwendige Rote Karte herum. Im Anschluss an die Partie entbrannte in Windeseile eine Diskussion über die Verhältnismäßigkeit, sowie die fragwürdige Interpretation des Schiedsrichters Tobias Reichel auf dem Platz, der vom VAR nicht einmal auf die Schwere des Vergehens aufmerksam gemacht wurde. Nicht nur Bochum-Coach Thomas Letsch tobte verständlicherweise im Anschluss an die Partie, auch Sky-Experte Didi Hamann leistete sich gegenüber Regelexperte Alex Feuerherdt eine verbale Entgleisung, die extrem erfrischend daherkam, weil der ehemalige Nationalspieler genau das aussprach, was einem jeden Fan auf der Seele brennt: Warum ist eine Rote Karte nicht einfach eine Rote Karte?
Der Fußball wird vertheoritisiert
Jeder, der sich in irgendeiner Weise tiefer mit dem Profifußball, seiner Geschwindigkeit und der zunehmenden Intensität beschäftigt, weiß grundsätzlich, wofür es einen Platzverweis geben sollte und wofür nicht. Diese Aussage ist bewusst so plump formuliert, weil sie genau dem entgegenstehen soll, was wir uns alle Woche für Woche von sogenannten Regelhütern gefallen lassen müssen. Es braucht also weder Experte Alex Feuerherdt noch sonst wer mit penibler Wortklauberei oder seinem Fachchinesisch oder abgedroschenen Phrasen wie dem „Trefferbild“ oder der „Schuhseite“ zu versuchen, klare Vorgänge zu verharmlosen. Wenn wir fahrlässig in Kauf genommene Verletzungen nur noch in der Theorie betrachten, können wir persönliche Strafen auch gleich ganz abschaffen. Kommen wir auf die anfangs in den Raum geworfene These zurück, dass ein grobes Foulspiel auch im Volksmund grundsätzlich klar definiert sein sollte, sind wir schnell wieder bei jener Szene in Freiburg, die nur noch umso fragwürdiger erscheint, wenn wir auf eine fast identische Situation nur 24 Stunden später in Köln blicken.
Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?
Deniz Aytekin, Schiedsrichter des Derbys zwischen Köln und Gladbach am gestrigen Sonntag, stellte anders als sein Kollege in Freiburg, den Gladbacher Kouadio Koné nach Intervention des VAR, für sein rüdes Einsteigen an Dejan Ljubicic folgerichtig vom Platz. Das Eingreifen des Videoassistenten, der ohnehin schon lange aufgrund vieler anderer Problematiken in der Kritik steht, war in diesem Fall absolut gerechtfertigt, setzt der Kontroverse um das undurchsichtige Regelwerk sowie den Interpretationsspielraum der Offiziellen auf dem Platz dennoch unfreiwillig die Krone auf. Warum erhält Grifo für ein nahezu identisches(!) Foulspiel (Vergleich hier) nur Gelb, während die Fohlen einen Platzverweis in Kauf nehmen müssen. So gerechtfertigt der junge Franzose vom Platz flog, so gerechtfertigt ist der Aufschrei bezüglich des Strafmaßes im Lager des VfL Bochum, der zurecht fassungslos zurückbleibt.
Autarkie oder Abhängigkeit?
Manuel Gräfe, auch von mir in der Vergangenheit aufgrund seiner Omnipräsenz als Chefkritiker der ehemaligen Kollegen immer wieder kritisch beäugt, legt dieses Mal den Finger absolut richtig in die Wunde, wenn er die fehlende Linie der Verantwortlichen auf dem Platz kritisiert und die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Entscheidungen anprangert. Denn trotz der letztendlich richtigen Beschlussfassung in Köln, wollen wir nicht unterschlagen, dass auch Deniz Aytekin ursprünglich nur auf Gelb für den Gladbacher entschied, weil er „die Intensität des Foulspiels“ in der Realgeschwindigkeit nicht 100% einschätzen konnte, wie er im Interview nach dem Spiel offen und ehrlich zugab. Ich stelle also nach Manuel Gräfe erneut die Frage: Wo bleibt die Linie der Unparteiischen bzw. der Bosse und Regelhüter und wie viel Eigenverantwortung übertragen oder entziehen wir ihnen wahlweise seit der umstrittenen Einführung des Videoassistent Referee im Jahr 2017?
Die Spur führt zu Drees
Diese Entwicklungen und Vorgaben, denen auch das Schiedsrichtergespann auf dem Platz und im Kölner Keller immer wieder Folge leisten, sind zurückzuführen auf die Schiedsrichterbosse und andere Regelhüter dieses Sports. Ja, ich prangere die fehlende Selbstständigkeit der Unparteiischen auf dem Platz an, möchte aber auch zugleich klarstellen, dass die Ursache hierin für mich nicht ausschließlich auf dem Platz, sondern auch bei den Entscheidungsträgern hinter den Schreibtischen liegt, die mit ihrem wöchentlichen Kauderwelsch maßgeblich zur kollektiven Verwirrung beitragen. Das deutsche Gesicht für die Umsetzung derartiger Regularien ist hierzulande DFB-Projektleiter und Ex-Bundesligaschiedsrichter Dr. Jochen Drees, der schon das ein oder andere Mal durch seine intransparenten Aussagen für extreme Kontroversen sorgte. Anstatt seiner Aufgabe nachzukommen, genau diese Sachverhalte wie VAR-Interventionen oder widersprüchliche Entscheidungen durch eine klar verständliche Außenkommunikation für Jedermann transparent und nachvollziehbar zu gestalten, stiftete der 53-Jährige in der Vergangenheit häufig nur noch mehr Verwirrung.
Es braucht eine Revolution
Man sollte eigentlich meinen, ein ehemaliger Leidensgenosse ist eher dazu in der Lage, Empathie für die Verantwortlichen auf dem Platz zu empfinden. Doch genau hier liegt das zentrale Problem: Mehr Einfühlungsvermögen oder eine nachhaltige Reform der bestehenden Prozesse anzuregen, die ganz Fußball Deutschland dringend nötig hätte, kommt einfach niemandem ernsthaft in den Sinn. Der völlig sinnfreie Versuch, eine VAR-App zu etablieren, ist nur noch ein weiteres Musterbeispiel dafür, in welchem realitätsfernen Paralleluniversum sich jene Entscheidungsträger mittlerweile bewegen. Jeder, der schon einmal ein Fußballstadion mit 30.000 Menschen oder mehr besucht hat, weiß, wie beschränkt der Zugang zu jeglichen Informationsdienstleistern besonders in einem Moment ist, in dem ebenso viele Menschen gerne über die Entscheidung des Schiedsrichtergespanns aufgeklärt werden möchten. Blicken wir in andere Sportarten wie den American Football, sind Entscheidungen und deren Umsetzungen durch öffentliche Lautsprecherdurchsagen der Offiziellen aufgrund von klaren Leitlinien viel transparenter und verständlicher. Also liebe Leute: Wenn wir schon Regeln (Stichwort Handspiel) einführen müssen, sollten wir auch dafür sorgen, dass sie alle verstehen.