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Was sich nach den ersten zwei Gruppenspielen gegen Japan (1:2) und Spanien (1:1) schon wie ein kleines Déjà-vu in Bezug auf das Turnier 2018 in Russland anfühlte, wurde nach dem letzten Spiel gegen Costa-Rica trotz eigenen Sieges nun bittere Realität. Die deutsche Nationalmannschaft ist bei einer WM zum zweiten Mal hintereinander in der Vorrunde ausgeschieden. Trotz deutlich veränderten Begleitumständen fühlt sich vieles so an wie vor vier Jahren im russischen Kazan nach der Pleite gegen Südkorea (0:2), als man schlussendlich für weitere vier Jahre voller Bequemlichkeit nach dem Weltmeistertitel in Brasilien 2014 die Quittung bekam. Die Mannschaft wirkte auch bei diesem Turnier nicht gierig genug, nicht heiß genug darauf, unbedingt eine Runde weiterzukommen und sich bei dieser besonderen Winter WM in Katar mit den Besten zu messen. Warum im deutschen Team nur Jamal Musiala und Antonio Rüdiger annähernd Normalform zeigten, weshalb sich Bundestrainer Hansi Flick und vor allem Geschäftsführer Oliver Bierhoff deutlich hinterfragen müssen und wieso der deutsche Fußball vor einer wegweisenden Zukunft steht, damit beschäftigt sich die nachfolgende Analyse.
In der Mannschaft müssen Veränderungen her
Die Mannschaft ist an vorderster Front natürlich der Faktor, der als ausschlaggebend für das sportliche Scheitern ausgemacht wird. Zu Teilen stimmt das, so zeigte das Team gemeinsam nicht den absoluten Siegeswillen und die Mentalität die es braucht, um im Konzert der ganz Großen mitspielen zu können. Einzig Jamal Musiala und Antonio Rüdiger schienen sich wirklich mit aller Kraft gegen das bevorstehende Unheil zu wehren, doch das reichte eben einfach nicht. Um Weltmeister zu werden braucht man einfach diese mannschaftliche Geschlossenheit getreu dem Motto „11 Freunde müsst ihr sein“. Eigentliche Führungsspieler wie Joshua Kimmich, Thomas Müller oder auch Leon Goretzka peformten einfach nicht gut genug und hatten somit definitiv eine Teilschuld am Ausscheiden ihrer Nationalmannschaft. Der Vorwurf, den beispielsweise Experte und Weltmeister Bastian Schweinsteiger der Mannschaft in der ARD vorbrachte, man habe nicht genug Leidenschaft gezeigt, trifft in weiten Teilen zu und legt schonungslos die Missstände in dieser Mannschaft offen. Dass Coach Hansi Flick diesen Vorwurf im Interview nach dem Spiel als Quatsch abtat, ist dabei eigentlich nur noch symptomatischer. Es klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn man im Vorfeld das klare Ziel ausruft, Weltmeister werden zu wollen, dann aber die nötigen Basics wie defensive Kompaktheit, den absoluten Aufopferungswillen sowie die mannschaftliche Geschlossenheit vermissen lässt. Auch deshalb ist es nahezu unausweichlich zum Wohle der Mannschaft auch auf Spielerebene tiefgreifende Veränderungen vorzunehmen. Ein Thomas Müller beispielsweise schien in einem bemerkenswerten Interview im Anschluss an das Ausscheiden die Zeichen der Zeit erkannt zu haben und richtete klare Abschiedworte an die Nation. Auch Spieler wie Manuel Neuer, der mit Marc-André ter Stegen einen starken Nachfolger hinter sich wüsste oder İlkay Gündoğan sind an der Reihe einen Rücktritt mehr als nur ins Auge zu fassen. Sportlich ist mit diesen Namen trotz ihrer Errungenschaften in den letzten Jahren einfach zu viel Misserfolg verbunden. Es bleibt festzustellen, dass in einem Teamgefüge analog zu anderen Berufen personelle Veränderungen genauso ein funktionierender Ansatz sein können, wie die Mitarbeiter auf eine andere Art und Weise zu motivieren bzw. einen innovativen Ansatz in Form eines neuen Trainers zu wählen. Letzter wurde im vergangenen Sommer nach dem Abschied von Joachim Löw ergriffen und fruchtete offenbar nicht, weshalb es jetzt endgültig an der Zeit zu sein scheint, das Gesicht der Mannschaft grundlegend zu verändern. Wenn genannte Spieler nicht von selbst aus auf die Idee kommen sollten zurückzutreten, muss vielleicht von anderer Seite nachgeholfen werden. Doch wie realistisch ist das?
Das Kind war schon gegen Japan in den Brunnen gefallen
Genau diese Frage führt uns zu den erwartbaren Folgen offensichtlicher Mängel im Teamgefüge. Das frühe Aus der Nationalmannschaft in Katar kommt weder komplett unerwartet noch besonders unverdient daher. Bereits im Spiel gegen die Japaner wurden viele Dinge deutlich, die vorher schon offensichtlich schienen aber von den Verantwortlichen einfach nicht gesehen werden wollten. Es häuften sich bei diesem erneut völlig desaströsen Vorrundenaus die Fehler, die extrem vielschichtig daherkommen. Ein Erklärungsansatz von vielen beginnt beim Trainerteam um Chefcoach Hansi Flick, der bereits im ersten Spiel gegen die „Samurai Blue“ aus Fernost mit völlig falschen Wechseln in der Schlussphase die Statik der Mannschaft mutwillig ins Wanken brachte und so den Bruch sowie die zwei späten Gegentore mit zu verantworten hatte. War die Auswechslung von Thomas Müller nach mehr als sechswöchiger Pause im Vorfeld der WM noch völlig verständlich, schwächte der Bundestrainer mit der Herausnahme von İlkay Gündoğan das Zentrum völlig unnötig und brachte mit Jonas Hofmann einen Spieler, der der Dynamik, die das Spiel spätestens nach dem Ausgleichstreffer von Freiburgs Ritsu Doan entwickelte, in keiner Weise gewachsen war. Die logische Konsequenz wäre es gewesen, Müller wie geschehen durch Goretzka zu ersetzen und statt Gündoğan den in diesem Spiel völlig desolaten Schlotterbeck beispielsweise durch Lukas Klostermann oder Thilo Kehrer zu ersetzen. Beide hätten definitiv die notwendige Stabilität einbringen und zudem auch problemlos als Innenverteidiger agieren können. Auch taktisch hätte sich die Situation für Japans schnelle, wendige Dribbelkünstler wie Doan, Asano oder Kubo völlig anders dargestellt, wenn die deutsche Mannschaft mit einem verdichteten Zentrum sowie robusten, hochstehenden Innenverteidigern agiert hätte. Stattdessen war es für den deutschen Auftaktgegner zwei Mal nach ähnlichem Muster viel zu einfach, das Mittelfeld zu überspielen und sich extrem leicht in aussichtsreiche Abschlusspositionen zu bringen. Auch Personell lässt sich im Nachhinein dieser völlig misslungenen WM feststellen, dass viele der 80 Millionen Bundestrainer recht behalten sollten, als sie vor dem Turnier vehement die Nominierung des erfahrenen Mats Hummels forderten. Ein solcher Spieler wäre vielleicht trotz seiner abgehenden Schnelligkeit der optimale Nebenmann für Antonio Rüdiger gewesen, um die Balance in einem mehr als schwachen Defensivverbund kurzfristig kaschieren zu können. Auf lange Sicht gesehen muss hier sowieso etwas passieren, was mit dem jähen Vorrundenaus somit nur noch früher zu Tage tritt. Vielleicht eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen des deutschen Scheiterns.
Flick hat die falschen Spieler nominiert
Wenn man schon bei der Auswahl gewisser Personalien ist, kann man in dieser Analyse genauso gut noch einmal auf den Kader eingehen, der vom früheren Bayern Trainer Flick an vielen Stellen völlig falsch zusammengestellt wurde. Begonnen hat das Ganze mit der bereits angesprochenen Nicht-Nominierung von Weltmeister Mats Hummels, mit dem der Mannschaft ein echter Routinier und Führungsspieler abhanden kam. So nahm das Unheil in diesem Mannschaftsteil schon seinen Lauf, als es noch nicht einmal die Startlinie überquerte. Bereits nach der Bekanntgabe des deutschen Kaders, die auch hier bereits analysiert und mehr als kritisch gesehen wurde, kamen vor allem Fragen bezüglich der Zusammensetzung der Mannschaft auf. Einem Bella-Kotchap, der anstelle von Hummels nominiert wurde, wollte man bei der WM eine wichtige Erfahrung verschaffen und habe laut dem Bundestrainer dabei „ein bisschen die Zukunft im Blick gehabt“ (Zitat Hansi Flick via Zeit Online). Schön und gut, dass man sich beim DFB im Jahr 2022 plötzlich dazu verpflichtet sieht, die Versäumnisse im Jugendbereich durch völlig überhastete Nominierungen wettzumachen, doch um dabei sprachlich im Bilde zu bleiben: Eine WM ist eben ein Marathonlauf, bei dem man neben den begnadeten Kurzstreckensprintern auch die ausdauernden Veteranen braucht, um das Ding ins Ziel zu bringen. Wie gesagt, die im Vorfeld der WM veröffentlichte Kaderanalyse thematisiert das ausführlich und soll nur einen geringen Teil dieser Nachbereitung einnehmen. Dennoch ist es unerlässlich auch hier noch einmal die wichtigste(n) Personalien kurz zu behandeln. Auch die Auswahl während des Turniers gibt vielen mehr als nur ein Rätsel auf. Dass man es zu Beginn der Endrunde gegen quirlige Japaner mit einem spielstarken Neuner wie Kai Havertz versucht, schien völlig nachvollziehbar und gerechtfertigt. Doch spätestens, als die fehlende Effizienz der Mannschaft immer deutlicher wurde und Niclas Fülkrug mit seinem Ausgleichstreffer gegen die Spanier zu überzeugen wusste, war für alle außer den Bundestrainer klar, dass dieser definitiv in die Startelf gehört. Auch wenn die Entscheidung zu Ungunsten von Füllkrug gegen Costa-Rica mit Blick auf das nackte Ergebnis nicht ausschlaggebend war, verpasste man es, ein klares Signal an die Spieler zu senden, dass Leistung in der Nationalmannschaft vor Vereinszugehörigkeit geht. Dass Flick auffallend viele Bayern Spieler in die erste Elf integrierte, mag ein Zufall sein, kommt aber beispielsweise mit Blick auf die zwar bemühten, aber nicht sonderlich starken Thomas Müller oder Joshua Kimmich trotzdem mit einem gewissen Beigeschmack daher. Allein die Tatsache, dass man in drei Spielen auf vier unterschiedliche Rechtsverteidiger setzte, macht auch hier noch einmal die fehlende Qualität deutlich. Auch die Startelfnominierung von Nico Schlotterbeck, der genau wie sein Kollege Niklas Süle ein bescheidenes Turnier (vor allem im ersten Spiel gegen Japan) spielte, wurde schon thematisiert und stützt die Erkenntnis, dass die Auswahl in den einzelnen Mannschaftsteilen vor allem zum Auftakt ein ausschlaggebender Punkt für das Ausscheiden war.
Die Entwicklung der Mannschaft geht seit Jahren in die völlig falsche Richtung
Das zweite Debakel innerhalb von vierundhalb Jahren ist ein Versagen auf allen Ebenen. Nicht nur die Spieler und der Trainer müssen sich hinterfragen, sondern auch alle im Umfeld der Mannschaft und besonders die Verbandspitze. Auch wenn der Ansatz löblich war, hat die deutsche Nationalmannschaft während des Turniers mehr mit politischen Statements als mit Leistung auf dem Platz auf sich aufmerksam gemacht. Immer wieder wurden Dinge wie die verzwickte sportliche Situation beispielsweise vor dem wegweisenden Spiel gegen Spanien in Interviews schöngeredet und zu wenig Selbstkritik geübt. Das Ganze ist dabei nur eine logische Konsequenz der Entwicklung, die schon seit dem WM Titel 2014 schleichend ihren Lauf nimmt. Statt wie zuvor den Fokus auf Entwicklung und eine ausgereifte Spielidee zu legen, lehnte man sich lieber zurück und vertraute auf Bewährtes, statt proaktiv auf Verbesserungen und Lösungsansätze hinzuarbeiten. Die ganze Entwicklung ist nicht nur mit dem Namen Joachim Löw oder Hansi Flick verbunden, sondern auch und vor allem mit Oliver Bierhoff und den Oberen des DFB. Aus vielen Aussagen der Verantwortlichen ist immer wieder die bereits angesprochene fehlende Selbstkritik herauszuhören. Das Festhalten der Verbandsspitze beispielsweise am „Geschäftsführer Nationalmannschaften und Akademie“ Oliver Bierhoff löst schon seit mehreren Jahren eine Menge Kontroversen aus und ist sicherlich aufgrund des großen sportlichen Verantwortungsbereichs des ehemaligen Nationalspielers ein zentraler Faktor des sportlichen Misserfolgs.
Es geht nur mit Veränderungen hinter denen alle stehen
Wie bereits analysiert, gibt es innerhalb des Nationalteams viele Probleme von der Mannschaft, über das Trainerteam bis hin zu führenden Persönlichkeiten in der Verbandsspitze. Wichtig ist es, dass bei der Entscheidungsfindung und der von DFB-Präsident Neuendorf angekündigten Aufarbeitung des WM Debakels klare Schlüsse gezogen werden und jeder hinterfragt wird. Das Team wird sich neu finden müssen und eine klare Strategie hinsichtlich der sportlichen Neuausrichtung, bei der wirklich alle handelnden Personen an einem Strang ziehen, ist dabei unerlässlich. Es bleibt zu hoffen, dass der sportliche Misserfolg der letzten Jahre den Verantwortlichen in Zukunft eine Lehre ist und vielleicht sogar analog zur WM 2014 eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, die getrieben vom Misserfolg dazu motiviert, bestehende Prozesse nachhaltig zu verändern und zukünftig wieder zu der großen Fußballnation zu werden, die man einst einmal war.