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Im Vorfeld des ersten Länderspiels gegen Frankreich, aber vor allem wenige Monate vor der Heim-EM im eigenen Land, tun sich im Lager der Deutschen Nationalmannschaft nach wie vor viele Fragezeichen auf. Bundestrainer Julian Nagelsmann hat eine dieser Fragen mit seiner aufsehenerregenden Kadernominierung bereits mit einem kleinen Ausrufezeichen gekontert. Doch was folgt? Wie sieht der Kader in rund zwei Monaten aus, wenn es ans Eingemachte geht, was muss passieren, um das Turnier zu einem erfolgreichen werden zu lassen und wie lautet die Marschroute des DFB nach unzähligen Jahren des Misserfolgs?
Radikalkur trotz Dementi
Sechs Neulinge sowie zwei Rückkehrer ließen ganz Fußballdeutschland nicht schlecht staunen, als der Noch-Bundestrainer kürzlich sein Aufgebot für die kommenden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande bekannt gab. Anders als seine Worte es im vergangenen Dezember noch vermuten ließen, unterzog der 36-Jährige seinem Kader mit einer solchen Vielzahl an Veränderungen sehr wohl einer Radikalkur. Neben Comebacker Toni Kroos rückten auch Deniz Undav, Jan-Niklas Beste, Maxi Mittelstädt, Waldemar Anton, Maxi Beier sowie Aleksandar Pavlovic in ein Aufgebot, das sich nun erst einmal neu finden und zusammenwachsen muss. Kurz vor einem solch wichtigen Großereignis wie einer Europameisterschaft im eigenen Land eine gewagte Maßnahme, die öffentlich definitiv auf dem Prüfstand stehen wird.
„Anders als seine Worte es im vergangenen Dezember noch vermuten ließen, stehen der Kader und die Worte Nagelsmanns mit einer solchen Vielzahl an Veränderungen sehr wohl für eine Radikalkur.“
Aufräumarbeiten und Momentum
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der 36-Jährige nach seinem Amtsantritt Ende September erst einmal die unzähligen Scherben seines Vorgängers Hansi Flick aufkehren musste, der es seit dem enttäuschenden WM-Vorrundenaus in Katar verpasste, ein stimmiges Grundgerüst zu installieren. Auch Nagelsmann versuchte im Oktober und November viel, setzte beispielsweise auf Havertz als linken Schienenspieler. Und doch hielt er sich an gewisse Prinzipien seiner Arbeit, die ihn zuvor schon beim FC Bayern ausgemacht hatten. Klare taktische Vorstellungen sowie die fußballerische Herangehensweise folgen einem klaren Plan, sind allerdings von Mannschaft zu Mannschaft etwas, das immer wieder punktuell auf das eigene Spielermaterial angepasst werden muss. Der Ex-Leipziger tut das, indem er nach dem Leistungsprinzip geht und Spieler beruft, die aufgrund des aktuellen Momentums die Intensität dieser fußballerischen Idee mitgehen sollen.
„Auch der 36-Jährige versuchte viel, hielt sich aber dennoch an gewisse Prinzipien seiner Arbeit, die ihn zuvor schon beim FC Bayern ausgemacht hatten.„
Routiniers oder Emporkömmlinge?
Schaut man auf das Grundgerüst, auf welches der junge Trainer und sein Team bei der Europameisterschaft zurückgreifen werden, kristallisiert sich schnell eine gewisse Achse heraus, die Sicherheiten im Team schaffen soll. Jene Achse besteht aus vier zentralen Akteuren: Manuel Neuer, Antonio Rüdiger Toni Kroos sowie Kapitän İlkay Gündoğan. Ersterer gilt trotz seiner kürzlich erlittenen Verletzung als gesetzte Nummer 1 für das Heimturnier, während letztere die im Club gezeigten Leistungen (endlich) bestätigen sollen, um ein Team anzuführen, dass unter vielen Newcomern nach dem nötigen Halt sucht. Beispiele sind vor allem die Rohdiamanten Wirtz und Musiala, denen um jeden Preis der Rücken freigehalten werden soll. Kreative Genies dieser Prägung können ihr volles Potential nur dann vollumfänglich entfalten, wenn sie um ihre Freiheiten und die nötige Rückendeckung wissen.
„Kreative Genies wie Wirtz oder Musiala können ihr volles Potential nur vollumfänglich entfalten, wenn sie um ihre Freiheiten und die nötige Rückendeckung wissen.„
Viel Erfahrung im defensiven Block
Gehen wir nun davon aus, dass der Bundestrainer wie in seinen bisherigen Testspielen auf eine Viererkette setzt und die Achse aus genannten Leistungsträgern in Stein gemeißelt ist, ist für Abwehrchef Rüdiger der Leverkusener Jonathan Tah aufgrund seiner Formstärke der wahrscheinlichste Nebenmann. Behält Maxi Mittelstädt unter Sebastian Hoeneß seine überragende Form bei, wird am 27-Jährigen auch in wenigen Monaten im Nationalteam kein Weg vorbeiführen. Die Viererkette vor Schlussmann Manuel Neuer komplettiert auf der rechten Seite ziemlich sicher der auf der Sechserposition in Ungnade gefallene Joshua Kimmich, der sowohl beim FC Bayern als auch im Nationalteam aufgrund der formstärkeren Konkurrenz auf die ungeliebte Außenbahn ausweichen muss. Neben Toni Kroos, der ebenso als Flaggschiff vor der Abwehr gesetzt ist, gelten auf der Doppelsechs entweder Robert Andrich oder Pascal Groß als wahrscheinlichste Zuarbeiter, die sowohl dem Maestro aus Madrid sowie den offensiven Feingeistern den Rücken freihalten sollen.
„Behält Maxi Mittelstädt unter Sebastian Hoeneß seine unglaubliche Form bei, wird am 27-Jährigen auch in wenigen Monaten im Nationalteam kein Weg vorbeiführen.“
Kontrolliertes Chaos
Vor Kroos und Andrich/Groß scheint Kapitän İlkay Gündoğan gesetzt, der auf den Halbpositionen wie bereits beschrieben mit ziemlicher Sicherheit von den Supertalenten Wirtz und Musiala flankiert wird. Beide werden im Spiel mit vielen Freiheiten ausgestattet sein und aufgrund ihrer individuellen Qualitäten oft in Eins-gegen-Eins-Duelle gehen. Der Platz in vorderster Front ist vielleicht der diskutabelste: Dort duelliert sich der bisherige Platzhirsch Niclas Füllkrug mit Kai Havertz und Deniz Undav, die im Verein durch überragende Leistungen beide ebenso Chancen aufs letzte Startelfmandat besitzen. Das wahrscheinliche 4-2-3-1 wird wie bereits von Nagelsmann gewohnt sehr variabel ausgelegt werden und auch im restlichen Kader besonderes den Spielern Einsatzchancen gewähren, die mit Variabilität und Einsatzwille glänzen. Nicht umsonst forderte Nagelsmann zuletzt mehr „Worker„. Eine Aussage, an der er sich auch in seiner Spielweise wird messen lassen müssen.
„Das wahrscheinliche 4-2-3-1 wird wie bereits von Nagelsmann gewohnt sehr variabel ausgelegt werden und auch im restlichen Kader besonderes den Spielern Einsatzchancen gewähren, die mit Variabilität und Einsatzwille glänzen.“
EM vor Augen
Mit den nun letzten beiden Länderspielen im Vorfeld der Vorbereitung Ende Mai steht die Nationalelf, die ab 2027 von Nike ausgerüstet wird, gehörig unter Zugzwang. Vermochte es der Bundestrainer mit seiner Kadernominierung in gewisser Weise Aufbruchstimmung zu erzeugen, gilt es jetzt für den gesamten Staff, dies mit Leistung zu bestätigen. Auch für die Spieler, die in letzter Instanz noch auf den EM-Zug aufspringen wollen, gelten kommende Länderspiele als Gradmesser, um sich festzuspielen. Für Nagelsmann und Co. gilt es in jedem Fall, die eigene Herangehensweise zu bestätigen und den Fans das zu geben, wonach sie sich seit Jahren sehen: Den sportlichen Erfolg mit einer extra Prise Euphorie.