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Die WM in Katar läuft nach wie vor und befindet sich auf ihrer Zielgeraden, auf der die Favoriten aus Frankreich und Argentinien zusammen mit den Außenseitern Kroatien und Marokko um den größten Titel im Weltfußball kämpfen. Während der Sieger dieses Turniers als noch gar nicht feststeht, kann man definitiv mit Recht behaupten, dass wir in diesem besonderen Jahr 2022 die sportlich gelungenste Weltmeisterschaft seit Ewigkeiten erleben dürfen. Leidenschaftliche Marokkaner, die nahezu jedem Widerstand trotzen und die ganze Fußballwelt begeistern, geniale Franzosen oder aufopferungsvoll kämpfende Argentinier sind es beispielsweise, die uns während der gesamten Endrunde hellauf begeistern. Der kommende Text widmet sich in diesem Rahmen drei Gründen, die dafür sorgen, dass diese Weltmeisterschaft sportlich die Beste seit langem ist.
1. Marokko als absolutes Überraschungsteam
Zuallererst zur wohl schönsten Geschichte des gesamten Turniers. Hand aufs Herz: Wer hat diese Marokkaner vor dem Turnier auf der Rechnung gehabt? Wohl keiner, außer besonders fußballverrückte Araber und optimistische Fußballromantiker. Dabei bietet das Team von Trainer Walid Regragui so viel mehr als nur das Potential zum Weltmeister. Diese Mannschaft kommt mit einer derartigen Geschlossenheit daher, dass man durch erst ein kassiertes Gegentor während dieser WM für seine Gegner von der Playmobil Ritterburg in Miniaturgröße in wenigen Spielen fast schon zur uneinnehmbaren Festung herangewachsen ist. Dass dieses eine Gegentor dann auch noch durch ein Eigentor zustande kam, ist dabei fast schon bezeichnend. Die Nordafrikaner sind als eingeschworene Einheit mit ihren Anführern Hakim Ziyech und Achraf Hakimi zu einer Mannschaft geworden, die durch ihren unbändigen Glauben an die eigene Stärke und ein besonders starkes Wir-Gefühl definitiv das Zeug dazu hat, im Halbfinale auch den hochfavorisierten Franzosen mehr als nur ein Bein zu stellen. Dieses Team steht sinnbildlich für eine gewisse Sehnsucht der Gesellschaft, Erfolg auf Werten wie Zusammenhalt und Leidensfähigkeit aufzubauen. Dass dies im modernen Fußball noch möglich ist, gleicht fast schon einem Wunder und unterstreicht eine bereits genannte Tatsache umso deutlicher: Marokko ist eins, getreu Dumas Motto „Einer für alle und alle für einen“. Diese Truppe wird auch gegen einen schier übermächtigen Gegner wie Frankreich alles geben und versuchen, die eigens inszenierte Rolle als Film-Boxheld Rocky Balboa bestmöglich zu verkörpern und sein Volk nach Siegen gegen Spanien und Portugal in eine noch tiefere Ekstase zu versetzen.
2. WM passt zum sportlichen Rhythmus und kommt den Spielern bei vollem Fitnesslevel entgegen
Entgegen einer WM im Sommer, die sonst ja immer nach einer kräftezehrenden Saison mit vielen Partien ansteht, spielt dieses Turnier im Winter vielen europäischen Topspielern definitiv in die Karten. So scheint es, dass einige Akteure mit dieser Ansetzung dazu fähig zu sein scheinen, im Vollbesitz ihrer Kräfte ihr absolutes Leistungsmaximum abrufen zu können. Auch deshalb scheint es ganz so, dass diese Endrunde durch ihre ohne Frage ungewöhnliche zeitliche Ansetzung einige „Gesetze“, die für eine WM im Sommer gelten, auszuhebeln scheint. Internationale Spieler von Topformat, die sonst im Verlaufe einer vorangegangen Saison nicht wirklich fit wirkten, können im Vollbesitz ihrer Kräfte bei diesem Turnier ihr absolute Spitzenform abrufen. Vor allem, da sie im Verlauf der Hinrunde bei ihren Vereinen voll im Saft stehen und der Wettbewerbsrhythmus für nahezu jeden europäischen Spitzenclub mit völlig intakten Titelchancen nach wie vor gegeben ist. Also auch an dieser Motivation oder einer Art „mental breakdown“ nach verlorenem Champions League Endspiel oder ähnlichem liegt es zu dieser Jahreszeit und zu dieser Saisonphase jedenfalls definitiv nicht. Was die WM allerdings mit Spielern in Hinblick auf die restliche Spielzeit und tragischen Figuren dieser Endrunde macht, steht genauso in den Sternen. Man denke dabei nur an Brasiliens Youngstar Rodrygo und dessen verschossenen Elfmeter im Viertelfinale gegen Kroatien. Der Einfluss dieser WM ist eben besonders und macht sie aufgrund ihren unabsehbaren Folgen trotz umstrittener Umstände nur noch einzigartiger als ein gewöhnliches Turnier.
3. Diese WM ist an Dramatik kaum zu überbieten
Bei dieser WM Endrunde wird eines besonders deutlich: An Dramatik ist diese kaum zu überbieten. Natürlich, auch bei den vorangegangen Turnieren in Russland oder auch Brasilien gab es emotionale Momente wie das Vordringen der russischen Gastgeber ins WM Viertelfinale gegen den späteren Finalisten Kroatien oder Brasiliens historische 1:7 Schmach gegen Weltmeister Deutschland 2014. Allerdings waren diese Erlebnisse irgendwie anders. Es war nicht erst im Vorfeld dieses Turniers ein subtiles Gefühl, dass der Fußball sich in den vergangenen vier bzw. acht Jahren einfach zu sehr weiterentwickelt und in der Spitze noch weiter professionalisiert hat. Die großen Nationen rückten gefühlt noch enger zusammen, während die Kluft zu den anderen, kleineren Teams immer größer wurde. Denkste, denn nicht nur Marokko sondern auch Teams wie Japan, die in der Gruppenphase mit Deutschland und Spanien zwei der drei letzten Titelträger schlugen, oder auch abermals starke Kroatien zeigten uns Fans und Fußballromantikern, dass auch in dieser modernen Fußballwelt nahezu alles möglich ist. Auf der anderen Seite denke man nur einmal zurück an die unzähligen Elfmeterschießen der bisherigen Endrunde, bei denen die Keeper Livakovic (Kroatien), Bono (Marokko) oder Martínez (Argentinien) über sich hinauswuchsen und zu gefeierten Nationalhelden wurden. Diese besondere Form der Dramatik gab es vor allem in Russland vor vier Jahren nicht so und verleiht dieser WM einen besonderen Touch, ja vielleicht sogar das gewisse Etwas, das sie zu einem Turnier macht, dass in Form seiner unzähligen Besonderheiten und Individualität in Bezug auf die Zukunft etliche Maßstäbe setzen wird. Egal wie auch die letzten vier Spiele noch ausgehen mögen, wir freuen uns drauf!