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Julian Nagelsmann wird also neuer Bundestrainer. Eine Wahl die oberflächlich naheliegend und sinnvoll erscheint, bei genauerem Hinsehen allerdings wieder einmal die fehlende Weitsicht des DFB sowie dessen mangelnde Objektivität offenlegt. Ein Kommentar zur Ernennung des neuen deutschen Nationaltrainers.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
Bis zur Heim-EM 2024 soll Julian Nagelsmann, im März diesen Jahres beim FC Bayern entlassen, die Deutsche Nationalmannschaft also betreuen. Ein Engagement auf Zeit eines jungen Bundestrainers, der im Anschluss des Turniers, das er im eigenem Land als reizvolle Herausforderung ansehen soll, wieder nach Höherem im Clubfußball strebt. Eine Entscheidung mit Weitsicht? Fehlanzeige. Aber das kennt man ja beim DFB inzwischen seit einigen Jahren gar nicht mehr anders. Ein Coach, der sich aufgrund seines Profils über den kurzfristigen Erfolg definiert und die Nationalmannschaft als ideale Möglichkeit sieht, sein Profil für die europäische Elite wieder interessant zu machen. Real Madrid sucht ab kommendem Sommer einen neuen Trainer. Der BVB sowie Topteams aus der Premier League könnten folgen. Nagelsmann geht in diesem Schaufenster kein allzu großes Risiko ein, genauso wenig wie der DFB, der wieder einmal wenig Fantasie zeigt und die nötige Reflexion der eigenen Fehler erneut vermissen lässt.
Ambition ≠ Erfolg
Dass der Erfolg bei einer Europameisterschaft im eigenen Land vor allem nach den schmachvollen Erlebnissen der letzten Turniere vom DFB intern zur kurzfristigen Priorität erklärt wird, ist an sich ein nachvollziehbarer Gedankengang. Man profiliert sich immer über die eigenen Errungenschaften und gewinnt durch sportliche Argumente an Reputation. Entscheidet man sich dann aber auf der Suche nach einer kurzfristiger Lösung für Julian Nagelsmann, sollten allein schon aufgrund der unglaublich vielen Reibungspunkte wie z. B. dessen Zögern aufgrund der enormen Gehaltslücke zwischen seinem Kontrakt beim FC Bayern (7 Millionen Euro pro Jahr) und beim DFB (4 Millionen Euro bis zur EM) die ersten Alarmglocken schrillen. Patriotismus und das nötige Commitment, den DFB wieder in eine erfolgreiche Zukunft zu führen, sehen definitiv anders aus.
Ein Trainer ohne Rückhalt?
Ein weiteres zentrales Problem liegt vor allem in zwischenmenschlichen Differenzen des 36-Jährigen mit Führungsspielern und jahrelangen Erfolgsgaranten der Nationalelf. Nagelsmanns „Karteileichen“ wie Thomas Müller oder Manuel Neuer sind ohne wenn und aber absolut essentiell für ein erfolgreiches Abschneiden bei einer EM im eigenen Land. Sie können sowohl auf als auch neben dem Platz einer Mannschaft enorm viel mitgeben und sind entscheidend für das Klima innerhalb der Kabine sowie eine klare Kommunikation. Die Medien werden diesen Umstand schnell als Angriffsfläche ausmachen und den jungen Coach immer wieder damit konfrontieren. Was passiert, wenn Nagelsmann das Duo trotz ansprechender Leistungen nicht nominiert? Wie rechtfertigt er dann ein Phänomen, dass das Leistungsprinzip außer Kraft setzt und persönliche Differenzen über das Wohl der Mannschaft und ein funktionierendes Teamgefüge stellt? Nicht weniger wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass selbiges Phänomen auch Vorgänger Hansi Flick vor allem im Vorfeld der WM in Katar (Bella-Kotchap statt Hummels) immer wieder auf die Füße fiel.
Qualifikationen nicht ausreichend
Unabhängig davon lassen auch Nagelsmanns sonstige Qualifikationen schnell Zweifel an seiner Eignung aufkommen. In der aktuell prekären Lage benötigt das Team vor allem einen Trainer, der bereits Erfahrung mit einer Nationalmannschaft vorzuweisen hat und über die Vorgänge innerhalb eines Verbandes Bescheid weiß. Mindestens ebenso problematisch ist seine mangelhafte mediale Reputation, denn ein Trainer, der schnellstmöglich die nötige Euphorie entfachen und kollektive Überzeugung ausstrahlen soll, muss hier über jeden Zweifel erhaben sein. Auch das ist der Ex-Bayern Coach keineswegs. Ein weiterer gewichtiger Kritikpunkt zielt auf die dringend nötige Resilienz in diesem Job ab. Drucksituationen, wie sie Nagelsmann unweigerlich spätestens während dem Turnier begegnen werden, an sich abprallen zu lassen und mit klarem Kopf Entscheidungen zu treffen, sind essentieller Bestandteil eines geeigneten Nationaltrainers. Auch das ließ er auf großer Bühne beim FC Bayern in der Vergangenheit immer wieder vermissen.
Alternativen waren da
Wirft man mit solch harten Worten um sich und definiert ein klares Anforderungsprofil, ist es jetzt an der Zeit, Kandidaten zu nennen, die das alles erfüllt hätten. Als erstes ins Auge sticht dort besonders Louis van Gaal. Der 72-Jährige besitzt ohne Zweifel die nötige Reputation, diesen Job mit all seinen Facetten bis zur EM im nächsten Jahr auszufüllen. Auch Stefan Kuntz, der laut diversen Medienberichten in der Türkei vor dem Aus steht, gilt als hervorragender Kommunikator und hätte die klar definierten Vorgaben ohne Zweifel bestens erfüllt. Beide besitzen Erfahrung auf dieser Ebene, van Gaal coachte die Niederlande sogar bereits bei zwei Weltmeisterschaften (2014 & 2022) höchst erfolgreich und gilt als absoluter Fachmann, der für eine klare Linie steht. Konsequenz und Geradlinigkeit zeichnen den Niederländer aus wie keinen Zweiten und verschaffen ihm aufgrund seiner unzähligen Erfolge sowie der nötigen Schlagfertigkeit als anerkannter Medienprofi ein enormes Profil, dass ebenso die oben genannten Anforderungen erfüllt. Dass sich außerdem langjährige Führungsspieler wie Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm sowie Michael Ballack in der Öffentlichkeit klar für den ehemaligen Bondscoach aussprachen, spricht umso mehr für die verpasste Chance seitens des DFB, einen echten Erfolgsgaranten zu installieren. Egal ob van Gaal oder Kuntz, die aufgezeigten Möglichkeiten sind klar ersichtlich und verdeutlichen, welch große Chance hier wieder einmal mit Füßen getreten wurde.