Was kann ein „Tor“ schon bewirken?

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Die Bundesliga hat in ihrer 60-Jährigen Historie bereits so einige verrückte Geschichten erlebt. Was haben wir nicht alle mit unseren Vereinen schon durchlitten, gelacht, geweint, geflucht und gehofft. Man erinnere sich beispielsweise nur an das Schalker Meisterdrama 2001, die Trauer und die Fassungslosigkeit der Fans im Parkstadion bleibt wohl auf ewig unvergessen. Während Patrik Andersson damals freundlich grüßte, konnte er mehr als eine Dekade später das erste Triple „seiner“ Bayern in Wembley bejubeln. Man erinnere außerdem sich an die Last Minute Rettung des HSV in der Relegation gegen den KSC 2015 und Marcelo Díaz´Freistoß für die Ewigkeit. Eine weitere Geschichte, die wohl für immer unvergessen bleibt, ist jene, die sich am 18. Oktober 2013 im sonst so beschaulichen Sinsheim ereignete: Stefan Kießlings legendäres Phantomtor beim 2:1 Auswärtssieg von Bayer Leverkusen gegen die TSG Hoffenheim. Die Emotionen kochten über und zogen nicht nur für den Torschützen selbst, sondern auch für Schiedsrichter Felix Brych sowie den gesamten Profifußball Konsequenzen nach sich (Stichwort VAR), die damals noch niemand ansatzweise absehen konnte. Das und vieles mehr sind definitiv Grund genug, mich in dieser Ausgabe von 4Ballers Retro jenem geschichtsträchtigen Ereignis zu widmen und meine Sicht auf die Ereignisse zu teilen, die ich damals live am Fernseher verfolgen durfte.

Kollektive Verwirrung

Ein unscheinbares Spiel war es bis dato gewesen, als mein 15-Jähriges Ich sich gerade entspannt aufs Wochenende einstimmte und mit Chips und Eistee eingedeckt das Treiben in Sinsheim verfolgte. Es stand 1:1 und die Partie plätscherte so vor sich hin, als Bayer-Legende Stefan Kießling zum Kopfball ansetzte und das Außennetz traf – Oder? Denn plötzlich war die Verwirrung riesengroß. Bei den Spielern, den Fans im Stadion und auch bei mir zu Hause vor dem Bildschirm. „Torschütze“ Kießling drehte bereits enttäuscht ab und auch die restlichen Akteure auf dem Feld orientierten sich zur Spielfeldmitte, als der Ball auf einmal im Tor lag. Aus der Verwunderung wurde Entsetzen und als der Unparteiische Felix Brych, seit diesem Ereignis für mich übrigens ein rotes Tuch im Schiedsrichterwesen, plötzlich zum Mittelkreis zeigte, wurde aus dem Entsetzen blanke Wut. Die Hoffenheimer Spieler gestikulierten wild und redeten auf den Unparteiischen ein, der als einziges Argument das Tornetz zur Hand hatte, dass von innen zappelte. Auch als die TSG Verantwortlichen ihm das Loch im Netz präsentierten und Torschütze Kießling im direkten Gespräch schuldbewusst die Arme hängen ließ, war der hauptberufliche Jurist nicht von seiner Entscheidung abzubringen. Das Tor war gegeben. Dass sich hier gerade eine Begebenheit von damals noch ungeahnter Tragweite ereignete, wusste zu diesem Zeitpunkt noch keiner. Doch dazu gleich mehr.

Wie hätte Fair-Play das ausgeglichen können?

Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine der beiden Mannschaften aktiv unterstützte, war ich dennoch erbost über den Hergang dieser Situation und konnte mich gar nicht mehr einkriegen. Wie konnte sowas sein und warum war Brych so ignorant, dass er trotz der offensichtlichen Beweise nicht von seiner Entscheidung abrückte? Dem Beitragsbild könnt ihr entnehmen, dass ich diese Szene damals unbedingt bildlich festhalten wollte. Neben der schlechten Qualität von meinem iPhone 5 kann ich euch verraten, dass das, was ihr da über der Headline seht, ein Frame aus einem verwackelten Ausraster-Video ist. Man könnte praktisch sagen, ich war der Pionier der heutigen YouTube Rage-Compilations. Aber genug von Ausflügen in die Welt Content Creator zurück zu diesem geschichtsträchtigen Freitag Abend in Sinsheim. Dieses Tor hatte also Bestand und als den Hoffenheim Spielern dies klar wurde, begannen die wilden Diskussionen mit Gästen aus Leverkusen, die sich allerdings keiner Schuld bewusst waren. Das alles lief frei nach dem Motto: „Ein Tor ist ein Tor, wie der Ball dahin kam, ist uns doch egal!“. Doch welcher Lösungsansatz stand anschließend überhaupt zur Debatte? Regelt man das über Fair-Play und lässt die Heimmannschaft gewähren, um das zu unrecht gegebene Tor zu egalisieren? Die Teams wurden sich nicht einig, es herrschte nach wie vor das blanke Chaos. Der Ansatz und vor allem die kurze Zeit zur Entscheidungsfindung war schon damals ein Problem und trug nicht dazu bei, eine schnelle und für alle Seiten zufriedenstellende Lösung zu gewährleisten. Auch der für mich völlig versagende Schiedsrichter Brych, der mit der Situation komplett überfordert war, trug nichts, beispielsweise mit lösungsorientierten Ansätzen, bei. Am Ende stand die für alle unverständliche Entscheidung, die Ereignisse aufgrund der eigenen Unfähigkeit und vielleicht auch der fehlenden Autorität einfach so stehen zu lassen, wie sie sind, was dafür sorgte, dass die Hoffenheimer das Spiel am Ende mit 1:2 verloren und der Unparteiische von da an für viele Fans, so auch für mich, zu einem massiven Feindbild wurde. Und das ist er übrigens bis heute.

Ein Ereignis von kolossaler Tragweite

Dass dieses Ereignis solch gravierende Folgen haben würde, die sich bis in die heutige Zeit erstrecken, war an diesem Oktobertag im Jahr 2013 natürlich noch niemandem klar. Zu konservativ war der Fußball damals noch gewesen, zu wenig bahnbrechende Veränderungen wurden von den Regelhütern des IFAB (International Football Association Board) angeregt. Dass ich ein Fan der damaligen Praktiken war und mich auch bis heute eher als Traditionalist sehe, der die ursprünglichen Werte und Normen des Profifußballs vertritt, würde ich hier gerne ebenfalls erwähnen. Der Videobeweis war damals ein Synonym für ein auf Kamera dokumentiertes Fremdgehen und ein vierter Offizieller war gerade mal so in Fußball Deutschland akzeptiert. Ganze zehn Jahre nach diesem geschichtsträchtigen Ereignis von Sinsheim ist der VAR Woche für Woche in aller Munde. Ich war zwar in diesem Moment ebenso fassungslos wie ich es heute bin, wenn ich mir so manche Entscheidungen ansehe, allerdings auf eine gesündere Art und Weise. Auch, wenn man jetzt offensichtlich argumentieren könnte, der VAR hätte mein damaliges Entsetzten auflösen können und das Tor entsprechend korrigiert, gehören doch genau solche emotionalen Ereignisse zu König Fußball wie ein kühles Bier zum Feierabend. Egal ob für Stefan Kießling, die TSG Hoffenheim oder für mich, dieser 18. Oktober 2013 wird auf ewig unvergessen bleiben und für immer einen Platz in der Geschichte der Fußball Bundesliga einnehmen.

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